Pascal Hector[1]
Überarbeitete Online-Fassung des Beitrags zum Kolloquium
anlässlich des 65. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. mult. Georg Ress, der
demnächst im Nomos-Verlag erscheinen wird.
Ó Der
Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Durch den Europäischen Rat von Nizza (7.-11.12.2000)
wurde der Text[2] der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union durch den Rat, das Europäische Parlament
und die Europäische Kommission feierlich proklamiert. Ausgearbeitet hatte ihn –
in weniger als einem Jahr - der Konvent[3],
der am 17. Dezember 1999 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten
war.
Im Folgenden sollen – in vier Fragenkomplexen - die
Probleme analysiert werden, die der Konvent zu lösen hatte und ein Überblick
über die Entwicklung der Debatte gegeben werden: Zunächst stellt sich die Frage
nach Notwendigkeit und Sinn des Unterfangens, die von zahlreichen Stimmen in
Zweifel gezogen worden waren, nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche
Überschneidungen mit anderen internationalen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes,
insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention. Daraus folgt
unmittelbar die Frage nach dem Verhältnis der Charta zur EMRK, der ich gerade
im Hinblick auf den Anlass für diesen Vortrag besondere Aufmerksamkeit widmen
möchte. Besondere Beachtung verdient drittens der organisatorische Rahmen des
Konvents, da sich aus ihm interessante Rückschlüsse auf die relative Stellung
der verschiedenen Teilnehmer herleiten lassen. Den vierten Teil bildet
schließlich die Untersuchung des Inhalts der Charta.
1.
Brauchen wir eine Grundrechtscharta für die Europäische Union?
Die Antwort scheint - streng juristisch gesehen - auf
den ersten Blick zu lauten: nein!
In der Europäischen Union ist bereits heute, durch die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der Schutz der Grundrechte
gewährleistet[4]: In
ständiger Rechtsprechung seit den sechziger Jahren stützt sich der Europäische
Gerichtshof hierbei auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Dies ist seit dem Inkrafttreten
des Maastricht-Vertrags in Art. 6 Abs. 1 EUV auch vertragsrechtlich
festgeschrieben.
In die gleiche Richtung weist der Auftrag des
Europäischen Rates von Köln, wonach "die auf der Ebene der Union geltenden
Grundrechte in einer Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht
werden sollen"[5]. Es handelt
sich zunächst also im Kern um eine Kodifikation geltender Grundrechtsgewährleistungen. Dabei geht der Konvent
allerdings, wie später noch zu zeigen sein wird, nicht nur vom engen Kanon des
Art. 6 Abs. 1 EUV aus, sondern zieht auch weitere Quellen wie die Europäische
Sozialcharta heran.
Worin liegt dann der Mehrwert der Charta? Ein Hinweis
auf die Überlegungen, die den Beschlüssen des ER Köln zugrunde liegen, finden
sich in dessen Ziffer 44: Dort wird als Zweck der Charta angegeben, dass durch
sie die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte "sichtbarer gemacht
werden sollen". Das Ziel ist - zumindest in einem ersten Schritt - also
größere Sichtbarkeit. Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin[6]
hat diese Überlegungen in Zusammenhang mit der deutschen Erfahrung gesetzt,
dass die einklagbaren Grundrechte des Grundgesetzes entscheidend zum Erfolg der
Bundesrepublik bei ihren Bürgern beigetragen haben, indem sich „so etwas wie
Verfassungspatriotismus“ entwickeln konnte. Sicherlich ist es derzeit noch zu
früh, von einem Verfassungspatriotismus in der Europäischen Union zu sprechen.
Die Überlegung, dass größere Sichtbarkeit der grundrechtlichen Gewährleistungen
das Identifikationspotential für den Bürger erhöht, ist jedoch nicht von der
Hand zu weisen und daraus könnte sich längerfristig ein solcher europäischer
„Verfassungspatriotismus“ entwickeln[7].
Von daher ist die Grundrechtscharta zunächst ein integrationspolitisches
Vorhaben mit dem Ziel, das Potential für die Identifikation des Unionsbürgers
mit seiner Union zu steigern, indem sie sichtbar macht, dass diese Union seine
Grundrechte achtet und schützt. Diese Funktion kann kein bestehendes
internationales Instrument des Grundrechtsschutzes übernehmen.
Aus der Perspektive der deutschen Staatsrechtslehre ist
das Projekt der Grundrechtscharta vor allem deshalb interessant, weil es zeigt,
wie die europäische Praxis, ungeachtet der grundsätzlichen Bedenken
hinsichtlich der „Verfassungsfähigkeit[8]“
der Union, Schritt um Schritt immer weitere Elemente einer Unionsverfassung entwickelt.
Nach diesen Bedenken, die ihren bekanntesten Ausdruck in
der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[9]
gefunden haben, aber deutlich älter sind[10],
wird aus dem postulierten Nichtvorhandensein eines europäischen Staatsvolks
nicht nur die fehlende Staatsqualität, sondern auch die Unmöglichkeit einer genuin
demokratischen Verfasstheit der Union hergeleitet – unter anderem mit der
Folge, dass das Bundesverfassungsgericht als das Gericht eines Mitgliedstaats
der Union für sich die Kompetenz in Anspruch nimmt, Unionsrecht am Maßstab des
deutschen Verfassungsrechts zu messen.
Abgesehen von der schwachen empirischen Grundlage auf
der diese Deduktionen stehen, einer Grundlage die zudem im Zeitverlauf noch
stark abbröckelt[11] spricht
gegen sie vor allem die folgende Überlegung: Ihre Grundlage sind Begriffe des
Staatsrechts – Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt - die ihre Wurzeln in der
Zeit des vollsouveränen Nationalstaats haben und nach einer immer stärker im
Vordringen befindlichen Meinung[12]
die Wirklichkeit der weit fortgeschrittenen supranationalen Integrationsgemeinschaft
Europäische Union nicht mehr sachgerecht erfassen können. Wenn aber die
Begrifflichkeit, von der die Überlegung ihren Ausgang nimmt, nicht mehr adäquat
ist, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Ergebnisse nicht die
notwendigen Antworten auf die Fragen der heutigen europäischen Wirklichkeit
liefern können.
Wenn man diese Überlegungen sozusagen vom Kopf auf die
Füße stellt, muss die Aufgabe vor der die europäische Rechtsetzungspraxis und
die Rechtslehre stehen lauten: Welche Rechtsinstrumente müssen entwickelt
werden, um die Vielvölkerdemokratie Europäische Union funktionsfähig zu
gestalten. Hierzu kann die Grundrechtscharta einen wichtigen Beitrag leisten:
Der Unionsbürger soll die Union als öffentliche Gewalt erleben, die seine
Rechte nicht beeinträchtigt sondern schützt und seine Freiräume erweitert.
Damit kein Missverständnis entsteht: Die
Grundrechtscharta ist zwar ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer
„Verfasstheit“ der Union, aber nicht notwendigerweise einer auf dem Weg zu
ihrer Staatlichkeit. Wenn man der hier vertretenen Auffassung folgt, dass auch
eine auf Dauer angelegte supranationale Integrationsgemeinschaft
verfassungsfähig und verfassungsbedürftig[13]
ist, so folgt damit – entgegen der älteren Lehre[14]
- eine Trennung[15] von
Verfasstheit und Staatlichkeit. Mit anderen Worten: Die Europäische Union kann
eine Verfassung mit allen dazugehörigen Elementen erhalten, ohne dadurch ihren
Charakter als Integrationsgemeinschaft sui generis zu verlieren.
Ein letztes Argument spricht für eine eigene
Grundrechtscharta der Union: Die prägende Kraft, die sie für die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs entfalten wird, wenn sie erst einmal in der
Praxis angewandt werden wird – entweder weil sie rechtlich verbindlich gemacht
worden ist oder weil der EuGH sie auch ohne rechtliche Verbindlichkeit als
Erkenntnisquelle heranziehen wird. Dies könnte durchaus zu einem
Perspektivwechsel in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs führen,
und damit auch in der Rechtsanwendung der anderen Gemeinschaftsorgane sowie der
Mitgliedstaaten. Wie Wolf[16]
gezeigt hat, lässt sich aus der bisherigen EuGH-Rechtsprechung eine oft eher
funktionale Sicht des Unionsbürgers als Marktbürger herleiten. Angesichts der
schrittweisen Herausbildung den Europäischen Union in einem Prozess sui generis
ist es verständlich, dass sich der Europäischen Gerichtshof - aus seinem
Selbstverständnis als Motor der europäischen Integration heraus - zunächst auf
die Vertiefung der Integration durch Ausdehnung der Kompetenzen der
Gemeinschaft bzw. die Union konzentriert hat. Dies führte zur starken Betonung
des Integrationsziels als quasi allgemeiner Schranke für den Grundrechtsschutz
im Rahmen der Union. Angesichts des erreichten Integrationsstands ist jedoch
ein Perspektivwechsel angesagt: weg von der alleinigen Ausrichtung auf den
Binnenmarkt, hin zu einer umfassenden Würdigung des Unionsbürgers als
grundrechtsgeschützter Persönlichkeit. Dies könnte im übrigen durchaus dazu
führen, dass Rechtsakte der Gemeinschaft häufiger als bisher wegen Grundrechtsverstoßes
annulliert werden. Zu diesem Perspektivwechsel kann und wird die
Grundrechtscharta einen wesentlichen Beitrag leisten, denn durch die
Kodifikation rücken die Grundrechte stärker als bisher in den Blick des Rechtsanwenders.
2. Das
Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention
Die Kritiker des Projekts weisen auf die Gefahr der
Herausbildung unterschiedlicher Grundrechtsstandards durch möglicherweise
divergierende Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg und
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg hin. Sie
befürchten den Verlust des europaweit - im Sinne des größeren Europa des
Europarats - einheitlichen Menschenrechtsschutz-Standards[17].
Diese Befürchtungen sind naheliegend. Sie lassen sich
jedoch durch eine nähere Betrachtung der Natur der Grundrechtscharta als
Kodifikation und ihres Verhältnisses zur EMRK entkräften.
Zunächst besteht diese Gefahr unterschiedlicher
Standards schon heute und wird durch die Grundrechtscharta nicht wesentlich
erhöht:
Die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention
gehören bereits (über Art. 6 Abs. 2 EUV) zu den Garantien des Unionsrechts, die
der EuGH bei der Grundrechtsprüfung heranzuziehen hat. Hierfür entwickelt der
EuGH durchaus bereits heute seine eigene Rechtsprechung zu den Grundrechten,
die auch in der EMRK garantiert sind.
Auf der anderen Seite unterliegen die Rechtsakte der
Europäischen Gemeinschaft auch ohne förmlichen Beitritt zur Europäischen
Menschenrechtskonvention[18]
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGH-MR),
wie Bröhmer[19] dargelegt
hat. Dies folgt schon aus der Überlegung, dass die EU-Mitgliedsstaaten, die der
Jurisdiktion des EuGH-MR unterliegen, sich den für sie geltenden
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Menschenrechtskonvention nicht dadurch
entziehen[20] können, daß
sie ihre Kompetenzen zusammenlegen und auf ein neues internationales
Handlungssubjekt[21], die
Europäische Union, übertragen.
Die wichtigste Überlegung, die schließlich für einen
eigenen EU-Grundrechtskatalog spricht, ist folgende: Ein potentieller
Jurisdiktionskonflikt negiert nicht die Sinnhaftigkeit eines eigenen
Grundrechtskatalogs. Auch die einzelnen Mitgliedstaaten, die unzweifelhaft der
Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterliegen,
haben ihre eigenen Grundrechtskataloge und ihre eigene
Verfassungsgerichtsbarkeit. Entscheidend ist, daß eine Instanz, die öffentliche
Gewalt gegenüber dem Bürger ausübt, über einen spezifisch auf sie
zugeschnittenen Grundrechtskatalog und eine entsprechende Gerichtsbarkeit
kontrolliert wird, die sicherstellt, daß die den Bürger belastenden Akte dieser
öffentlichen Gewalt wirksam an einem grundrechtlichen Maßstab überprüft werden
können.
Daher haben die deutschen Länder in ihren
Landesverfassungen zu recht einen Grundrechtskatalog und eine
Verfassungsgerichtsbarkeit für Akte der Landesgewalt. Ebenso haben die
Nationalstaaten, etwa die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz, einen
Grundrechtskatalog und eine Verfassungsgerichtsbarkeit für die nationale
Staatsgewalt. Von daher erscheint es nur natürlich, daß die Europäische Union
als weitere Ebene öffentlicher Gewalt in Europa ebenfalls einen Grundrechtskatalog[22]
erhält, der den Grundrechtsschutz durch die Gerichtsbarkeit des Europäischen
Gerichtshofs weiter stärkt.
Hier sollte man kein falsches Konkurrenzverhältnis
herbeireden: Jede dieser Jurisdiktionen - auf der Ebene der Länder, der Mitgliedstaaten
und der Union - hat ihre spezifische Aufgabe, jede bietet den für die jeweilige
Ebene öffentlicher Gewalt optimierten Prüfungsmaßstab. Das führt im übrigen
nicht zu einem „Übereinanderstapeln“ immer weiterer Ebenen
verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten, da diese 3 Ebenen für ihren
Anwendungsbereich jeweils exklusiv sind: So werden Akte der Unionsgewalt –
gleich ob durch Unionsorgane oder durch die Mitgliedstaaten in der Durchführung
von Unionsrecht gesetzt – vom Europäischen Gerichtshof grundrechtlich überprüft
und zwar grundsätzlich ausschließlich[23],
so dass jedes nationale Gericht – zumindest jedes konkret letztinstanzliche[24]
- bei Zweifeln an der Vereinbarkeit eines Unionsrechtsakts mit den
Grundrechten, diese Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen muss.
An diese Grundrechtsprüfung anhand des spezifischen
Maßstabs entweder durch den EuGH oder das nationale Verfassungsgericht schließt
sich in jedem Fall die Möglichkeit zur Anrufung des EuGH-MR an – und zwar, wie
gezeigt, auch ohne förmlichen Beitritt der Union zur EMRK.
Im übrigen wird ein solcher förmlicher Beitritt der
Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union zur Europäischen
Menschenrechtskonvention - nach den notwendigen Vertragsänderungen - durch die
Grundrechtscharta nicht überflüssig. Im Gegenteil ist er, im Interesse der
Rechtsklarheit, nach der Verabschiedung der Grundrechtscharta sogar
wünschenswerter denn je, um deklaratorisch festzustellen, dass dem Unionsbürger
nach der Erschöpfung des Rechtswegs, auch wenn dieser bereits eine abweisende
Vorabentscheidung des EuGH enthalten sollte, wegen der Behauptung einer
Grundrechtsverletzung durch einen Akt der Unionsgewalt der Weg zum EuGH-MR
offensteht, der diesen Akt dann anhand des Maßstabs der EMRK und seiner eigenen
Rechtsprechung überprüft.
In der Praxis sollte diese zusätzliche Überprüfung
allerdings nur in extremen Ausnahmefällen zu einem anderen Ergebnis in der
Sache führen, denn es besteht Einigkeit, daß die EMRK den Mindeststandard
darstellt, der auf jeden Fall einzuhalten ist, genauso übrigens wie die
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten so wie sie durch den EuGH bisher
herausgearbeitet worden sind. Allerdings kann sie auch nur einen
Mindeststandard darstellen, denn das Unionsrecht kennt darüber hinaus weitere
grundrechtliche Gewährleistungen, die teilweise sogar nur den Unionsbürgern
zustehen, wie etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Kapitalverkehrsfreiheit,
die Niederlassungsfreiheit oder das Recht auf freien Warenverkehr. Schon von
daher würde ein Beitritt zur EMRK alleine nicht ausreichen können.
3.
Organisatorischer Rahmen
a) Der
Auftrag des Konvents
Der Auftrag des Konvents – hinsichtlich dessen in der
öffentlichen Darstellung häufig Missverständnisse festzustellen sind – folgt
aus den Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Köln[25].
Dort heißt es, das Gremium solle "rechtzeitig vor dem Europäischen Rat im
Dezember 2000 einen Entwurf vorlegen". Das heißt: der Konvents beschließt
nicht etwa abschließend über die Grundrechtscharta, sondern er arbeitet
lediglich einen Entwurf aus, der
anschließend in einem zweistufigen Verfahren durch die Institutionen der
Europäischen Union abgesegnet wird: durch Billigung seitens des Europäischen
Rats und durch anschließende feierliche Proklamation durch Rat, Europäische
Kommission und Europäisches Parlament.
Gleichzeitig enthält dieser Auftrag auch eine klare
zeitliche Vorgabe: „rechtzeitig vor dem Europäischen Rat im Dezember 2000“
(7.-11. Dezember in Nizza). Dieser Termin wurde durch den ER Feira[26]
vorverlegt auf den ER Biarritz (13./14. Oktober 2000), ursprünglich mit dem
Ziel, dort eine erste Diskussion im Kreis der Mitglieder des Europäischen Rates
zu ermöglichen. Tatsächlich waren aber die Arbeiten des Konvents schon Anfang
Oktober 2000 abgeschlossen. Sein Vorsitzender, Roman Herzog, hat in der
abschließenden Sitzung des Konvents am 2. Oktober 2000 festgestellt, dass der
Entwurf der Charta von allen Parteien angenommen werden kann und ihn dem
Vorsitzenden des Europäischen Rats rechtzeitig vor der Tagung von Biarritz
(13./14. Oktober 2000) übermittelt. Der ER Biarritz hat den Text der
Grundrechtscharta festgestellt und damit die feierliche Proklamation durch den
Rat, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament durch den ER
Nizza ermöglicht.
b) Die
Zusammensetzung des Konvents
Die Zusammensetzung des Konvents ist in den
Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere festgelegt[27].
Danach besteht der Konvent aus insgesamt 62 Mitgliedern:15 Beauftragten der
Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einem Beauftragten des
Präsidenten der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen
Parlaments sowie 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente, zwei aus jedem
Mitgliedstaat, die von den nationalen Parlamenten benannt werden. Darüber
hinaus hat jedes Mitglied des Gremiums einen Stellvertreter, der nach dem Text
des Europäischen Rats von Tampere an sich nur ein Abwesenheitsvertreter sein
sollte, in der Praxis jedoch ständig zu den Tagungen des Konvents zugelassen
ist. Als Beobachter nehmen teil: zwei Vertreter des Europäischen Gerichtshofs,
ein Vertreter des Europarats und einer des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte.
Bemerkenswert ist, daß diese Zusammensetzung
institutionell ein völliges Novum darstellt: ein - zumindest auf den ersten
Blick - gleichberechtigtes Zusammenwirken von Rat/Mitgliedstaaten, Kommission,
Europäischem Parlament und Vertretern der nationalen Parlamente. Der Konvent
unterscheidet sich damit grundlegend von einer Regierungskonferenz, dem bisher
stets verwendeten Instrument zur Weiterentwicklung des primären
Gemeinschaftsrechts[28].
Bei einer Regierungskonferenz sind ausschließlich die Mitgliedstaaten
vollberechtigte Verhandlungspartner, die Kommission wird an den Arbeiten
beteiligt und mit dem Europäischen Parlament wird lediglich ein
Meinungsaustausch geführt, auf der Ministerebene in der Regel sogar außerhalb
der Verhandlungskonferenz.
Die Arbeit eines solchen, völlig neuartigen Gremiums,
erforderte selbstverständlich die Klärung zahlreicher verfahrensmäßiger
Einzelfragen. Diese konnten in den ersten Monaten der Arbeit des Konvents
jedoch ohne größere Schwierigkeiten gelöst werden, was auch zu erwarten gewesen
war, denn alle Beteiligten, insbesondere auch das Europäische Parlament, haben
ein Interesse am reibungslosen Funktionieren dieser neuen Organisationsform.
Dies vor allem aus zwei Gründen: Eine Charta der
europäischen Grundrechte ist und war immer auch ein Projekt des Europäischen
Parlaments[29], seit
dessen erster Direktwahl: Das EP hat im Grundrechtsbereich beachtliche
Vorarbeiten geleistet, z.B. die Erklärung der Grundrechte und Freiheiten vom
12.4.1989[30] und den
Grundrechtsteil des EP-Entwurfs für eine Verfassung der EU vom 10.2.1994[31].
Das Europäische Parlament hat somit von der Sache her ein Interesse am Erfolg
des Charta-Projekts.
Darüber hinaus hat das Europäische Parlament aber auch
ein Interesse am Erfolg dieses Verhandlungsmodells, das ihm eine
vergleichsweise sehr günstige Position einräumt: volle Beteiligung mit 16
Mitgliedern im Gegensatz zu nur zwei Beobachtern in der Vorbereitungsgruppe für
die Regierungskonferenz. Daher ist es naheliegend, dass einige zumindest
insgeheim die Vorstellung hegen, eine Versammlung nach dem Vorbild des Konvents
könne später einmal – zum Beispiel im jetzt beginnenden Post-Nizza-Prozess -
weitere Aufgaben bei der Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts übernehmen.
c) Die
interne Organisation des Konvents
Die Schlußfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere
sind hinsichtlich der inneren Organisation des Konvents relativ allgemein
gehalten. Auffallend ist lediglich die zentrale Rolle, die der Europäische Rat[32]
dem Präsidium[33] – und damit
letztlich auch dem Vorsitzenden des Konvents - zugewiesen hat.
Dieses Präsidium besteht aus dem Vorsitzenden, den drei
stellvertretenden Vorsitzenden – dem Beauftragten des Präsidenten des
Europäischen Rates[34]
und jeweils einem Vertreter des Europäischen Parlaments[35]
und der nationalen Parlamente[36]
- sowie dem Vertreter der Kommission[37].
Seine außergewöhnlich starke Stellung - es schlägt den Arbeitsplan vor und
arbeitet den ersten Charta-Entwurf aus – erklärt sich auch aus dem großen
Zeitdruck: Der Konvent musste seine komplexe Aufgabe in weniger als einem Jahr
erledigen. Daraus resultiert das Erfordernis einer effizienten internen
Organisation der Arbeiten, die unnötige Bürokratie so weit wie möglich
vermeidet. Dies gilt um so mehr, als der Konvent 15 verschiedene nationale
Verfassungstraditionen zur gemeinsamen Formulierung eines Grundrechtskatalogs
zusammenführen musste.
Das Plenum - der Konvent – sollte ursprünglich etwa alle
zwei Monate tagen; wegen der Arbeitslast mussten jedoch, vor allem in den
letzten Monaten, mehrere zusätzliche Termine[38]
eingeschoben werden. Die Frage, ob neben dem Plenum auch spezialisierte ständige
Arbeitsgruppen eingerichtet werden sollten, ist im Interesse einer leichten und
effizienten Arbeitsstruktur negativ entschieden worden: Statt dessen tagte der
Konvent zwischen den regulären Plenarterminen quasi als open-ended ad hoc
Arbeitsgruppe, bei der die Teilnahme allen Mitgliedern offen stand.
d) Das
Beschlussfassungsverfahren
Besonders aufschlussreich für das relative Gewicht der
verschiedenen Mitglieder im Konvent ist das Beschlussfassungsverfahren. Hierzu
heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Tampere[39]:
"gelangt der Vorsitzende in engem Benehmen mit den stellvertretenden
Vorsitzenden zu der Auffassung, dass der von dem Gremium ausgearbeitete
Charta-Entwurf für alle Seiten zustimmungsfähig ist, wird der Entwurf dem
Europäischen Rat im Wege des üblichen Vorbereitungsverfahrens zugeleitet".
Das heißt: auch dieses Verfahren betont die überragende
Stellung des Vorsitzenden und seiner drei Stellvertreter: Letztlich kommt es
auf deren Überzeugung an, ob der ausgearbeitete Entwurf für alle Seiten
zustimmungsfähig ist. Dabei ist der Vorsitzende nochmals besonders
hervorgehoben: Er bildet seine Überzeugung „im Benehmen“ und nicht im
Einvernehmen mit seinen Stellvertretern.
Für alle Seiten zustimmungsfähig heißt: zunächst für den
Europäischen Rat, der den Entwurf in einem ersten Schritt billigen muss, sodann
für Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament, die ihn
anschließend feierlich proklamieren. Mit anderen Worten: Der Entwurf muss für
die Regierung eines jeden einzelnen Mitgliedstaats akzeptabel sein, da die
Entscheidungen im Europäischen Rat nur im Konsens getroffen werden. Der
anschließenden Entscheidung des Rates über die Proklamation dürfte – nach der
Billigung des Entwurfs durch der Europäischen Rat - kaum eine eigenständige
Bedeutung mehr zukommen. Die Europäische Kommission, muss zumindest der
Proklamation zustimmen, das heißt: der Entwurf muss, da die Kommission
grundsätzlich mit der (einfachen) Mehrheit ihrer Mitglieder entscheidet, für
eine Mehrheit der Kommissare annehmbar sein. Schließlich folgt aus der
Mit-Proklamation durch das Europäische Parlament, dass der Entwurf auch für
eine Mehrheit im Europäischen Parlament akzeptabel sein muss. Keine formelle
Zustimmung ist dagegen seitens der nationalen Parlamentarier erforderlich.
Diese wirken am abschließenden Entscheidungsprozess nur indirekt - über ihren
Einfluss auf die nationalen Regierungen - mit.
Konkret heißt das für den Entscheidungsprozess im
Konvent: Wenn es hart auf hart kommt, müssen alle Regierungsvertreter sowie der
Vertreter der Kommission zustimmen – zumindest soweit man davon ausgehen muss,
dass die Nichtzustimmung eines dieser Beauftragten auch zur Ablehnung durch die
von ihm vertretene Seite im Proklamationsverfahren führt. Außerdem muss der
Vorsitzende im Benehmen mit seinen drei Stellvertretern zu der Überzeugung
gelangen, dass der Entwurf im Europäischen Parlament mehrheitsfähig ist, ohne
daß jedoch notwendigerweise die Mehrheit der Vertreter des Europäischen
Parlaments im Konvent zugestimmt haben muss. Für die Praxis ist allerdings
davon auszugehen, daß sich das Europäische Parlament in seiner Willensbildung
sehr stark an der Stellungnahme seiner Vertreter im Konvents ausrichten wird,
so daß jedenfalls in der Praxis ein Resultat, das nicht die Zustimmung der
Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Konvent erhält, keine
Aussicht auf Proklamation durch das EP hätte.
4.
Inhaltliche Aspekte
Die folgende inhaltliche Analyse der Charta konzentriert
sich auf folgende fünf Aspekte: die Normtauglichkeit der Formulierungen, die
Schutzrichtung und das Verhältnis zum nationalen Grundrechtsschutz, einen
ersten Überblick über Struktur und Inhalt der grundrechtlichen
Gewährleistungen, die Schrankenregelung sowie die Verfahren zur gerichtlichen
Durchsetzung des Grundrechtsschutzes.
a)
Rechtstext oder "Verfassungslyrik"[40]
Da – zumindest in einem ersten Schritt - nur eine
feierliche Proklamation der Charta vorgesehen ist, wäre eine Formulierung als rein
politischer Text denkbar gewesen. Diese Lösung hatte in der politischen Debatte
durchaus ihre Befürworter, aus zwei im übrigen ganz unterschiedlichen
Motivationen heraus: Zum einen von der Seite derjenigen, die das Projekt
insgesamt ablehnen und es daher, da es nun einmal unvermeidbar geworden war,
gerne soweit wie möglich verwässern wollten; zum anderen von den Befürwortern
möglichst umfassender sozialer Rechte, da ein rein politischer Text in deutlich
stärkerem Maße als ein „harter Rechtstext“ die Möglichkeit eröffnet hätte, auch
allgemeinere politische Zielbestimmungen aufzunehmen, in der trügerischen
Hoffnung, die oft weitreichenden rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen
sozialer Grundrechtsgewährleistungen in der Rechtspraxis unter Hinweis auf den
rein politischen Charakter des Dokuments ausblenden zu können.
Dieser Ansatz verkennt allerdings, dass in den
Schlußfolgerungen der Europäischen Räte von Köln und Tampere bereits als
zweiter Schritt die Prüfung vorgesehen ist, inwieweit die Grundrechtscharta
anschließend in die Verträge eingefügt werden kann. Bei einem lediglich
politischen Text wären dann weitere schwierige Textarbeiten erforderlich
gewesen.
Der Konvent hat sich daher für einen "harten
Grundrechtstext" entschieden, der später – falls solches entschieden
werden sollte - unverändert in den Vertrag eingefügt werden könnte. Dies
entspricht im übrigen auch der Auffassung der Bundesregierung, nach der die
Grundrechte so formuliert werden müssen, "daß Sie nach der Proklamation
ohne weitere Änderung den Europäischen Verträgen hinzugefügt werden
können"[41].
Zwischenzeitlich angestellte Überlegungen, zwei Texte zu
formulieren: einen harten Rechtstext, der später als solcher in die Verträge eingefügt
werden könnte und eine politische Erklärung mit der die politischen Anliegen
des Projekts besser erläutert werden könnten, sind damit überholt. Bei einem
solchen Vorgehen hätten sich im übrigen auch schwierige Fragen nach dem
Verhältnis der beiden Texte zueinander gestellt, insbesondere hinsichtlich der
rechtlichen Tragweite des politischen Textes. Die Charta enthält allerdings
eine kurze Präambel, in der die sie tragenden politischen Grundgedanken
zusammengefasst worden sind. Dieser Text ist dabei so knapp gehalten, dass er
bei einer allfälligen Einfügung der Charta in die Verträge Eingang in deren
Präambel finden könnte.
b) Sachlicher Anwendungsbereich, Schutzrichtung und Verhältnis zum nationalen Grundrechtsschutz
Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs folgt aus
der Logik des Projekts - das Grundrechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt
seitens der Union gewähren will -, dass nur solche Akte erfasst werden, die der
Union zurechenbar sind. Dies können Akte sein, die die Union selber - durch
ihre Organe - setzt oder Akte, die der Union deshalb zurechenbar sind, weil sie
in Ausführung des Unionsrechts[42]
durch die Mitgliedstaaten - und zwar in ihrer Gesamtheit, das heißt
einschließlich der Regionen (zum Beispiel die deutschen Länder) und Gemeinden -
gesetzt worden sind. Mit anderen Worten: Es muss der Union direkt oder
mittelbar zuzurechnendes Verhalten vorliegen.
Die Einbeziehung des Handelns der Mitgliedstaaten,
soweit sie Unionsrecht ausführen, in den Schutzbereich der Unionsgrundrechte,
wie sie vom Europäischen Gerichtshof entwickelt wurden, ist im übrigen nichts
Neues: So hat der EuGH wiederholt entschieden[43],
dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte achten müssen, soweit im Rahmen des
Anwendungsbereichs der Verträge tätig werden, sei es um das Gemeinschaftsrecht
umzusetzen, sei es um von ihm abzuweichen.
Das Postulat eines umfassenden Grundrechtsschutzes - das
aus dem auch für die Union geltenden Rechtstaatsprinzip (Art. 6 Abs. 1 EUV)
folgt - erfordert
die Einbeziehung aller Hoheitsakte der Unionsgewalt in den Anwendungsbereich
der Grundrechtscharta, also auch derjenigen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, einschließlich der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (sog. 2. Säule – Titel V EUV) und des intergouvernementalen
Bereichs der Justiz- und Innen-Zusammenarbeit (sog. 3. Säule –
Titel VI EUV). Gerade dieser letztgenannte Bereich ist wegen der
Möglichkeit zur Hoheitsausübung gegenüber dem Einzelnen besonders sensibel, so
dass er einer verstärkten grundrechtlichen Absicherung bedarf[44].
Das heißt: Alle
Hoheitsträger, die Unionsgewalt ausüben, haben auch in diesen Bereichen die
Grundrechte zu achten. Die Justiziabilität – zumindest[45]
seitens des EuGH - dürfte allerdings im Normalfall durch Art. 46 EUV
ausgeschlossen sein.
Keine Geltung kann die Grundrechtscharta dagegen für das
Handeln der Mitgliedstaaten in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich
beanspruchen, da ihre Anwendbarkeit durch das Bestehen einer Kompetenz der
Union bedingt und ihr Geltungsbereich damit zugleich auch begrenzt ist. Die
Grundrechtsgewährleistungen der Charta führen im übrigen auch nicht zu einer
Ausdehnung der Unionskompetenzen: Wegen des Prinzips der begrenzten
Einzelermächtigung, das durch die Charta nicht berührt wird, ist die Union nur
für die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Bereiche zuständig. Die
Grundrechtscharta (Art. 51 Abs. 2) schließt jedoch die Begründung neuer
Zuständigkeiten oder die Änderung der in den Verträgen festgelegten
Zuständigkeiten und Aufgaben durch sich ausdrücklich aus.
Angesichts dieses engen Anwendungsbereichs stellt sich
die Frage nach der Berechtigung einzelner Bestimmungen: zum Beispiel der
Religionsfreiheit oder des Verbots der Todesstrafe. Zwar hat die Europäische
Union keine Zuständigkeit für die direkte Regelung religiöser Angelegenheiten,
sie ist aber verpflichtet, bei der Regelung von Sachverhalten für die sie
zuständig ist, die Inzident-Wirkungen der Grundrechte zu berücksichtigen. Ein
Beispiel: Bei der Regelung der Schlachtung von Tieren, für die sie kraft ihrer
Landwirtschafts-Kompetenz zuständig ist, ist die Gemeinschaft auf Grund der
Religionsfreiheit (Art. 10 der Charta) verpflichtet, auch religiöse Aspekte mit
zu berücksichtigen.
Darüber hinaus kodifiziert die Charta auch die
Wertordnung der Union insgesamt, vor allem auch in ihren Außenbeziehungen. Dies
ist zum Beispiel eine der Rechtfertigungen für die Aufnahme des Verbots der
Todesstrafe in die Charta: selbstverständlich hat die Union keine Kompetenz zur
Verhängung der Todesstrafe und wird diese auch nie erhalten. Jedoch gehört das
Verbot der Todesstrafe zur Wertordnung der Union, was unter anderem in der
konsequenten Bekämpfung der Todesstrafe im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik zum Ausdruck kommt.
Fallengelassen wurde der zeitweise im Konvent erörterte
Gedanke[46],
für die sozialen Grundrechte, die in starkem Maße das Verhältnis der
Arbeitsvertragsparteien zueinander betreffen, eine Drittwirkung gegenüber den
Sozialpartnern ausdrücklich festzuschreiben.
Zusammenfassend sei gesagt: Die Grundrechtscharta ist
kein "Super-Grundrechtskatalog" für jedes öffentliche Handeln auf dem
Unionsgebiet[47]. Vielmehr
ist im Rahmen der Rechtsanwendung zu unterscheiden, ob ein Rechtsakt im
konkreten Einzelfall der Union zuzurechnen ist oder dem Handeln der
Mitgliedstaaten in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich. Dies mag zwar zu
einigen Abgrenzungsproblemen in der Praxis führen, ist vom Grundsatz her aber
nichts Neues.
c) Inhalt der grundrechtlichen
Gewährleistungen
Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Köln[48]
unterscheiden fünf Gruppen von Grundrechten, die in die Charta aufgenommen
werden sollen: Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte, Verfahrensgrundrechte,
Unionsbürgerrechte sowie wirtschaftliche und soziale Rechte. Daneben tritt,
obwohl nicht ausdrücklich erwähnt, als sechste Kategorie - bzw. der Bedeutung
nach als erste - der Schutz der Menschenwürde als umfassende
Fundamentalgarantie[49].
Mit diesem Auftrag des Europäischen Rates war klar, dass
keine der genannten Kategorien in den Arbeiten des Konvents völlig ausgeblendet
werden konnte - auch nicht die umstrittene Kategorie der wirtschaftlichen und
sozialen Rechte. Offen war allein die Formulierung, und damit das Ausmaß des
Grundrechtsschutzes.
Hinsichtlich des Detaillierungsgrads der Formulierungen
hat sich der Konvent von den ersten Entwürfen an für knappe und allgemein
gefasste Bestimmungen entschieden, wie wir sie aus dem Grundgesetz kennen, und
damit gegen das Modell oft übermäßig detaillierter Regelungen, wie es
typischerweise internationalen Menschenrechts-Schutzinstrumenten zugrunde liegt
- auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dahinter steckt die
Überlegung, dass es für die Effektivität des Grundrechtsschutzes weniger auf
den Detailgrad der Schutzbestimmungen ankommt, als auf einen guten
Rechtsprechungsapparat, der die Grundrechtsdogmatik zu handhaben weiß. Dem
übermäßigen Detailgrad internationaler Schutzinstrumente liegt dagegen oft das
Misstrauen der Staaten gegen internationale Rechtsprechungsorgane zugrunde –
ein Stadium, das innerhalb der Rechtsgemeinschaft Europäische Union
glücklicherweise überwunden zu sein scheint.
Die Endfassung der Charta sieht, im Anschluss an eine
Präambel, 54 Bestimmungen in 7 Kapiteln[50]
vor, die wie folgt aufgeteilt werden: Die Würde des Menschen (Art. 1-5),
Freiheiten (Art. 6-19), Gleichheit (Art. 20-26), Solidarität (Art. 27-38),
Bürgerrechte (Art. 39-46), justizielle Rechte (Art. 47-50) und Allgemeine Bestimmungen
(Art. 51-54).
Diese abschließende Fassung stellt sozusagen die vierte
Generation dar, nach den ersten Entwürfen für die einzelnen Bestimmungen im
Frühjahr, den Zwischenentwürfen
vom Mai[51]
mit denen erstmals, wenn auch in mehreren Teilen, ein Gesamtbild vorgelegt
worden war und dem ersten Gesamtentwurf des Präsidiums vom 28. Juli[52],
in dem bereits zahlreiche Änderungsvorschläge[53]
der Mitglieder des Plenums berücksichtigt worden waren.
(1)
Die Präambel
Die Präambel fasst in wenigen Sätzen die „Grundlage
gemeinsamer Werte“[54]
zusammen auf der die „immer engere Union“ der Völker Europas aufbaut. Bemerkenswert
ist, dass neben den bekannten Grundsätzen der Menschenwürde, der Freiheit, der
Gleichheit, der Solidarität[55],
der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit auch ein ausdrückliches Bekenntnis
zur Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen Europas sowie der
nationalen Identität der Mitgliedstaaten enthalten ist. Auch das
Subsidiaritätsprinzip wird erwähnt.
Heftig umstritten war in der Schlussphase der
Verhandlungen die von den Kirchen geforderte Bezugnahme auf Gott, die
insbesondere von den laizistischen Mitgliedstaaten strikt abgelehnt wurde. Als
Kompromiss, der schließlich die Einigung ermöglichte, wurde der Hinweis auf das
"geistig-religiöse und sittliche Erbe" der Union aufgenommen, das
allerdings nur in der deutschen Fassung den Terminus "religiös“ enthält.
In den übrigen Sprachfassungen wurde
die Erwähnung des Religiösen ausdrücklich vermieden[56].
Im 6. Absatz der Präambel findet sich ein Niederschlag
der Theorie der Grundpflichten: die Inanspruchnahme der Rechte der Charta wird
in ausdrücklichen Bezug zu Verantwortlichkeiten und Pflichten gegenüber den
Mitmenschen, der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen
gesetzt.
(2) Die Gewährleistung der Würde des Menschen
Wie das Grundgesetz beginnt auch der Chartaentwurf mit
der grundlegenden Gewährleistung der Würde des Menschen, deren Unantastbarkeit[57]
festgestellt wird (Art. 1).
Das Kapitel „Würde des Menschen“ umfasst neben dieser
allgemeinen Gewährleistung auch die Freiheitsrechte auf Leben und körperliche
Unversehrtheit in den Ausprägungen: Recht auf Leben (Art. 2), Recht auf
Unversehrtheit (Art. 3), Verbot der Folter (Art. 4) sowie der Sklaverei und
Zwangsarbeit (Art. 5).
Bemerkenswert bei der Garantie des Rechts auf Leben ist das
- im Text nicht eingeschränkte - Verbot der Todesstrafe in Art. 2 Abs. 2. Damit
stellt sich die Frage nach dem Verhältnis dieser Bestimmung zum System der
Europäischen Menschenrechtskonvention, laut dessen Zusatzprotokoll Nr. 6 die
Todesstrafe für Taten in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr
zulässig bleibt. Nach Auffassung des Konvents[58]
bleiben die Einschränkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention –
einschließlich derjenigen des Art. 2 von Protokoll Nr. 6 - auch hier anwendbar.
Begründet wird dies unter Bezugnahme auf die horizontale Schrankenbestimmung
der Charta[59], wonach
eine Beschränkung bis zu den von der Europäischen Menschenrechtskonvention
vorgegebenen Schranken zulässig sei. Es stellt sich jedoch die Frage, ob bei
einer derart gewichtigen Gewährleistung wie der Abschaffung der Todesstrafe
jegliche Einschränkung nicht doch ausdrücklich in den Text der Charta hätte
aufgenommen werden müssen. Andernfalls kann mit einigem Recht argumentiert
werden, dass die Charta mit dieser unbedingten Formulierung gerade einen
höheren und umfassenderen Schutz gewährleistet.
Innovativ ist die Formulierung des Rechts auf
Unversehrtheit (Art. 3), bei der der Versuch[60]
unternommen wird, Fragen der Medizin und der Bioethik detaillierter zu regeln,
als dies bisher in den nationalen Verfassungen der Fall war. Die Formulierung
bleibt allerdings innerhalb der dem Konvent gesetzten Grenzen der Kodifikation,
da sie sich am Übereinkommen des Europarats über Menschenrechte und Biomedizin
orientiert. Verboten werden beispielsweise eugenische Praktiken sowie das
reproduktive Klonen von Menschen aber auch das Bestreben den menschlichen
Körper oder Teile davon zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen. Die Auflistung
wird ausdrücklich als nicht erschöpfend gekennzeichnet („insbesondere“), um
Fortschritten auf dem Gebiet der Biomedizin Rechnung tragen zu können[61].
(3)
Die
Freiheitsrechte
Das Kapitel über die Freiheitsrechte enthält neben den
bekannten Freiheitsgewährleistungen[62]
vor allem folgende bemerkenswerte Fortentwicklungen:
Ein Recht auf Datenschutz (Art. 8) das - vergleichbar
dem von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Recht
auf informationelle Selbstbestimmung – die Gewährleistung festschreibt, dass
personenbezogene Daten nur mit Einwilligung oder auf gesetzlicher[63]
Grundlage sowie zu einem festgelegten Zweck verarbeitet werden dürfen. Darüber
hinaus enthält die Vorschrift Auskunfts- und Berichtigungsrechte und ihre
Einhaltung soll von einer unabhängigen Stelle, einer Art EU-Datenschutzbeauftragtem,
überwacht werden.
Das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu
gründen (Art. 9) wurde ausdrücklich[64]
so gefasst, dass die Verleihung des Status einer Ehe für Verbindungen von
Personen gleichen Geschlechts weder untersagt noch vorgeschrieben wird. Die
Zulässigkeit solcher Verbindungen folgt vielmehr allein aus der
einzelstaatlichen Gesetzen, denen weder in die eine noch in die andere Richtung
eine Vorschrift durch die Charta gemacht wird.
Als Unterpunkt der Vereinigungsfreiheit wird eine Garantie
für das Institut politischer Parteien auf europäischer Ebene abgegeben (Art. 12
Abs. 2).
Mit dem Recht auf Bildung (Art. 14 EUV) ist eine
Gewährleistung in die Freiheitsrechte aufgenommen, die in der öffentlichen
Debatte in der Regel zu den sog. sozialen Grundrechten gezählt wird[65].
Ein Grund für diese Einordnung könnte das Bemühen sein, Leistungsansprüche von
vorneherein dadurch zu reduzieren, dass es als Recht auf Zugang zu bestehenden
Einrichtungen formuliert wird. Ein Recht zur unentgeltlichen Teilnahme ist nur
für den Pflichtschulunterricht vorgesehen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2), woraus e
contrario geschlossen werden könnte, dass für die Teilnahme an anderen
Bildungsveranstaltungen Gebühren bis hin zur Kostendeckung erhoben werden
können. Die in Art. 14 Abs. 2 garantierte Freiheit zur Gründung von
Lehranstalten entspricht Art. 7 Abs. 4 GG.
Neu ist auch die
ausdrückliche Garantie eines "Rechts zu arbeiten" als Bestandteil der
Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1) und damit korrespondierend die explizite Gewährleistung
der unternehmerischen Freiheit (Art. 16)
(4)
Die
Gleichheitsrechte
Die Gleichheitsgewährleistungen im engeren Sinn umfassen
neben dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 20) auch eine Liste spezifischer
Nichtdiskriminierungsbestimmungen (Art. 21) und einen speziellen Auftrag zur
Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen (Art. 23).
Bei den spezifischen Nichtdiskriminierungsbestimmungen
sind neben den allgemein etablierten wie Geschlecht, Rasse, Hautfarbe usw. sind
auch neuartige Elemente enthalten: genetische Merkmale, Sprache, Zugehörigkeit
zu einer nationalen Minderheit; Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung.
In einem zweiten Absatz wird das bereits im EG-Vertrag (Art. 12 EGV) enthaltene
Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
aufgegriffen. Die Bestimmung über die Gleichheit der Geschlechter, insbesondere
bei der Festsetzung der Arbeitsentgelte und der sonstigen Arbeitsbedingungen
(Art. 23) greift ebenfalls eine Regelung des EG-Vertrags (Art. 13 EGV) auf.
Art. 23 Absatz 2 erlaubt dabei auch positive Fördermaßnahmen.
In drei innovativen Bestimmungen greift der
Chartaentwurf den Schutz der Kinder, die Rechte älterer und die Integration
behinderter Menschen auf: In Art. 24 wird - in Anlehnung an das Übereinkommen
über die Rechte des Kindes – der Anspruch eines jeden Kindes statuiert, „den
Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind“ und die
Möglichkeit zu erhalten, auf die es selbst betreffenden Angelegenheiten,
entsprechen dem Grad seiner persönlich Reife, Einfluss zu nehmen. In Art. 25
wird das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf
Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben anerkannt. Behinderte Menschen
erhalten in Art. 23 Anspruch auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer
Eigenständigkeit und ihrer Eingliederung in die Gesellschaft. Diese beiden
Vorschriften gehören, obwohl sie im Kapitel „Gleichheit“ und nicht
„Solidarität“ stehen, zu den wenigen des Chartaentwurfs, die unmittelbare
Leistungsansprüche begründen. Angesichts des eng definierten Anwendungsbereichs
und der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 50 Chartaentwurf aus der sich
die Möglichkeit ergibt, die Einzelheiten des Leistungsanspruchs gesetzlich zu
regeln, dürften diese Bestimmungen nicht zu unzumutbaren Belastungen der Union
und der Mitgliedstaaten führen.
Auslegungsschwierigkeiten könnte insbesondere die erst
in letzter Minute eingefügte Art. 22 aufwerfen, wonach die Union die Vielfalt der
Kulturen, Religionen und Sprachen achtet. Angesichts der ausdrücklichen
Bezugnahme in den Erläuterungen des Präsidiums auf die Erklärung Nr. 11 zur
Schlussakte von Amsterdam betreffend den Status der Kirchen und Welt
anschaulichen Gemeinschaften ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung die
Antwort des Konvents auf die Forderung der Kirchen nach einem eigenen
Kirchenartikel darstellt. Diese allgemeine Fassung mit der bloßen Bezugnahme
auf die Vielfalt der Religionen dürfte jedoch den Erwartungen der Kirchen nicht
genügen.
(5)
Die „Solidarrechte“
Die Bundesregierung[66]
hatte sich von Anfang an für die Aufnahme sozialer Grundrechte in die Charta
ausgesprochen, soweit sie Gegenstand justiziabler subjektiv-öffentlicher Rechte
sein können. Die auch von anderen Regierungen[67]
geforderte Aufnahme sozialer Grundrechte war bereits in die Schlussfolgerungen
des Europäischen Rats von Köln eingeflossen[68]
und damit dem Grunde nach unstrittig. Sehr strittig waren dagegen Umfang und
Ausgestaltung.
Eine Ursache hierfür mag sein, dass dieser Bereich
bisher deutlich weniger gefestigt ist, als die Freiheits-, Gleichheits- und
Unionsbürgerrechte. Die politische Debatte um die Grundrechtscharta drehte sich
- neben der Frage nach ihrer künftigen Rechtsqualität – daher auch vor allem um
die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Hier prallten zwei
gegensätzliche Auffassungen aufeinander: Die Beschränkung auf einklagbare
Individualgrundrechte und das Bestreben nach einem möglichst umfassenden
Katalog wohlklingender sozialpolitischer Absichtserklärungen.
Die Charta ist hier offensichtlich bemüht, einen
vermittelnden Weg zu gehen, indem dieser Bereich zwar relativ ausführlich
behandelt wird, vor allem wenn man die in anderen Kapiteln untergebrachten
„sozialen“ Grundrechte[69]
hinzunimmt, sie sich aber andererseits auf Regelungen beschränkt, die in
anderen Rechtsinstrumenten wie der Europäischen Sozialcharta, aber auch in
sekundärem Gemeinschaftsrecht[70]
bereits erfasst sind Neu ist daher nur der Rang als grundrechtliche
Gewährleistung, nicht aber die Regelung als solche. Und die Gewährleistung von
Leistungsansprüchen ist darüber hinaus stets unter den Vorbehalt der
Ausgestaltung durch das Recht der Mitgliedstaaten gestellt.
Für eine solche behutsame Aufnahme in den
grundrechtlichen Schutzbereich spricht, dass die tragenden Elemente des
sozialen Schutzsystems, die sich im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet und
bewährt haben, auch grundrechtlich abgesichert werden sollten, sozusagen zu
„Grundrechten gerinnen“. Durch die Beschränkung auf die tragenden Elemente ist
auch sichergestellt, dass diese Regeln sich nicht als Sperrklinke gegen die
Veränderung eines jeden einmal erreichten Schutzniveaus auswirken, sondern dass
– bei Garantie der Architektur des Sozialsystems – das Schutzniveau sich
wechselnden wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst werden kann. So wird zum
Beispiel der Elternurlaub als solcher zwar garantiert, nicht aber seine
konkrete Dauer. Diese bleibt der Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber
vorbehalten.
Die Gewährleistungen des Kapitels IV – Solidarität –
lassen sich in drei Gruppen einteilen: Arbeitnehmerschutzrechte, Ausprägungen
des Sozialstaatsgebots und Querschnittsbestimmungen mit Maßstäben, an denen
sich das Handeln der Union in den Sachpolitiken ausrichten soll.
Die Arbeitnehmerschutzrechte (Art. 27-33) umfassen neben
der klassischen Koalitions- und Tarifvertragsfreiheit sowie der Gewährleistung
der Möglichkeit zu kollektiven Arbeitskampfmaßnahmen für Arbeitnehmer und
Arbeitgeber[71] (Art. 28)
vor allem Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer, wie das Recht auf rechtzeitige
Unterrichtung und Anhörung (Art. 27), den Schutz vor ungerechtfertigter
Entlassung (Art. 30), das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31),
den Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz (Art. 32) sowie soziale
Schutzrechte für Eltern zur Sicherung der Vereinbarkeit von Familie und
Berufsleben (Art. 33). Außerdem wird, als ein kodifizierungsfähiger Ausfluss
des Rechts auf Arbeit, das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen
Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29) garantiert.
Eine interessante Ausbuchstabierung des
Sozialstaatsprinzips im Unionsrahmen stellen die Art. 34 und 35 dar, die das
Recht auf Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen[72]
(Art. 34 Abs. 1) und zur Sozialhilfe (Art. 34 Abs. 3) sowie zum
Gesundheitssystem (Art. 35) festschreiben, allerdings mit der sehr weitgehenden
Einschränkung, dass diese Rechte dem Einzelnen nur nach Maßgabe des
Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und
Gepflogenheiten[73] zustehen.
Das Recht auf Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen wird ausdrücklich auch
Arbeitnehmern aus anderen EU-Mitgliedstaaten zuerkannt (Art. 34 Abs. 2), nicht
aber das auf Zugang zur Sozialhilfe, wie sich aus der systematischen Stellung
der Vorschrift ergibt.
Die Querschnittsbestimmungen enthalten
Handlungsmaßstäbe, die die Politik der Union in allen[74]
Sachbereichen zu berücksichtigen hat: den Zugang zu Diensten von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse (Art. 36), den Umweltschutz (Art. 37) und den
Verbraucherschutz (Art. 38). Es handelt sich hierbei um den Versuch, Konzepte,
die in der politischen Diskussion eine so zentrale Rolle einnehmen, dass sie
nicht unberücksichtigt bleiben können – wie z.B. das „Recht auf Umwelt“ -, in einer
praktikablen Weise in die Grundrechtscharta zu übernehmen. Ihre Einordnung in
das Kapitel Solidarität erscheint allerdings mehr als Verlegenheitslösung.
(6)
Die
Bürgerrechte
Das Kapitel V – Bürgerrechte – umfasst nicht nur die
Unionsbürgerrechte, sondern auch Jedermann-Grundrechte, die sich auf die
Verwaltung der Union beziehen, wie das „Recht auf gute Verwaltung“.
Die Möglichkeit zwischen Unionsbürgern im Sinne des Art.
17 EGV und Drittstaatsangehörigen zu differenzieren ist auch durch den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt[75]
– und damit die grundsätzliche Zulässigkeit von Unionsbürgerrechten, die
lediglich dem Unionsbürger zustehen. Die Unterscheidung ist bei jedem einzelnen
Artikel im Wortlaut kenntlich gemacht: die Jedermann-Grundrechte beginnen mit
"Jede Person“, "Niemand", "Alle Menschen"; die
Unionsbürgerrechte mit "Die Unionsbürger".
Die Unionsbürgerrechte fassen die politischen Rechte aus
dem EG-Vertrag zusammen: das Wahlrecht zum Europäischen Parlament[76]
(Art. 39) und bei Kommunalwahlen im Wohnsitzstaat (Art. 40), das Recht auf
Zugang zu den Dokumenten der Unionsinstitutionen (Art. 42), das Recht auf
Befassung des Bürgerbeauftragten (Art. 43), das Petitionsrecht (Art. 44) die
Freizügigkeit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (Art. 45 Abs. 1) und das
Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46). Die Freizügigkeit
kann auf Drittstaatsangehörige ausgedehnt werden (Art. 45 Abs. 2); dies bedarf
jedoch einer gesonderten Entscheidung gemäß den Verfahren des EGV.
Als Jedermann-Grundrecht ausgestaltet ist dagegen das
Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41), das die bisher im wesentlichen von
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs[77]
entwickelten Grundsätze über den korrekten Umgang der öffentlichen Verwaltung
mit dem Bürger kodifiziert. Dazu gehören insbesondere ein Anhörungsrecht nicht
nur bei Gericht sondern auch gegenüber der Verwaltung, ein Recht auf
Aktenzugang in eigener Sache und die Verpflichtung der Verwaltung,
Entscheidungen zu begründen. Wichtig ist vor allem auch die Verpflichtung zur
Entscheidung innerhalb angemessener Frist. Schließlich wird die Sprachenfrage -
im Verhältnis zum Bürger – geregelt: Jedermann muss eine Antwort in der
Amtssprache der Union erhalten, in der er sich an ihre Organe und Einrichtungen
gewandt hatte.
(7)
Die
Verfahrensgarantien
Kapitel VI fasst die, auch in der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs[78]
rezipierten, klassischen Verfahrensgrundrechte zusammen: das Recht auf wirksamen
Rechtsbehelf (Art. 47 Abs. 1), auf faires Verfahren einschließlich des Zugangs
zu Prozesskostenhilfe (Art. 47 Abs. 2 und 3), die Unschuldsvermutung und das
Recht auf Verteidigung (Art. 48), den Grundsatz nulla poena sine lege und der
Verhältnismäßigkeit der Strafzumessung (Art. 49) sowie das Verbot wegen
derselben Sache zweimal vor Gericht gestellt zu werden (ne bis in idem) (Art.
50).
d) Schrankenregelung
Hinsichtlich der Schrankenregelung stand der Konvent vor
der Wahl eines Systems von spezifischen Einzelschranken, wie etwa im
Grundgesetz, oder eines Systems der Beschränkung durch einige wenige,
horizontale Prinzipien, wie z.B. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,
entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
Mit der Schrankenregelung in Art. 52 hat sich der
Konvent für das letztere entschieden. Das lag schon deswegen nahe, weil dieses
System der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs[79]
entspricht. Wohl noch wichtiger war aber die Überlegung, dass die Schutzwirkung
der Grundrechte weniger vom Detailgrad der Formulierung der Schranken durch den
Gesetzgeber abhängt, als vielmehr von der Fähigkeit der Rechtsprechung, den
grundrechtlichen Gewährleistungen im Wege praktischer Konkordanz größtmögliche
Wirksamkeit zu verleihen. Dies entspricht im übrigen auch den Erfahrungen der
deutschen Verfassungsrechtsprechung: Das ausdifferenzierte Schrankensystem zur
Berufsfreiheit (Art. 12 GG) ist auch nicht vom Verfassungsgesetzgeber sondern
von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[80]
entwickelt worden.
Die Kernbestimmung der Schrankenregelung des Entwurfs
(Art. 52 Abs. 1) sieht daher folgende drei Zulässigkeitsvoraussetzungen für
eine Beschränkung vor: Gesetzesvorbehalt, Wesensgehaltsgarantie und
Verhältnismäßigkeit, insbesondere Erforderlichkeit im allgemeinen Interesse
oder zum Schutz der Rechte anderer. Für die aus EGV und EUV übernommenen Rechte
gelten die dortigen Schrankenregelungen (Art. 52 Abs. 2). Grundsätzlich haben
die parallel zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieften Rechte[81]
die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der Konvention (Art. 52 Abs. 3). In
jedem Fall stellen die Gewährleistungen der EMRK somit einen Mindeststandard
dar, der nicht unter- wohl aber unter bestimmten Voraussetzungen überschritten
werden darf, ebenso das Völkerrecht und andere internationale Übereinkommen in
ihrem Anwendungsbereich (Art. 53). Schließlich ist ein Verbot (Art. 54)
vorgesehen, das den Missbrauch von Chartabestimmungen zur übermäßigen
Einschränkung der Grundrechte ausschließen soll.
Hinsichtlich der drei Kernschranken - Gesetzesvorbehalt,
Wesensgehaltsgarantie, Verhältnismäßigkeit – stellt sich vor allem die Frage
nach der Auslegung des Gesetzesvorbehalts. Laut Art. 52 Abs. 1 muss jede
Einschränkung „gesetzlich vorgesehen“ sein. Da das Unionsrecht den förmlichen
Gesetzesbegriff nicht kennt, sondern nur – im Gemeinschaftsrecht – den der
Verordnung, Richtlinie und Entscheidung[82]
ist eine unionsrechtskonforme Anwendung dieses Konzepts erforderlich. Zunächst
kommt nur eine generell-abstrakte Vorschrift mit Normqualität in Frage. Dies
ist in erster Linie bei der Verordnung und der Richtlinie der Fall.
Interessanter noch ist aber, ob besondere Anforderungen
an den Normgeber zu stellen sind. Soweit das unmittelbar demokratisch
legitimierte Parlament[83]
mit echter Entscheidungskompetenz beteiligt ist, z.B. im
Mitentscheidungsverfahren, ist die Antwort einfach. Schwieriger ist es bei
Rechtsakten, die der Rat außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens erlässt.
Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob die indirekte demokratische
Legitimation die die Mitglieder des Rates als Angehörige ihrer Regierung haben,
ausreicht, um Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Dabei wird man den
besonderen Charakter der Union einerseits als Bürgerunion andererseits aber
auch als Staatenunion berücksichtigen müssen, innerhalb derer die Rechtsetzung
notwendigerweise anderen Regeln folgt als im innerstaatlichen Bereich. Noch
schwieriger ist die Lage hinsichtlich der Kommission: Wegen ihrer stark
exekutiven Natur dürfte ein nur von der Kommission erlassener Rechtsakt als
Grundrechtsschranke nur dann ausreichen, wenn er seinerseits auf eine
ausreichende gesetzliche Grundlage gestützt ist und diese lediglich
konkretisiert.
e) Verfahren zur gerichtlichen
Durchsetzung des Grundrechtsschutzes
In der öffentlichen Debatte wird oft vorschnell der
Fehlschluss von der noch nicht erfolgten Aufnahme der Grundrechtscharta in die
Verträge auf ihre fehlende Rechtsverbindlichkeit gezogen. Dabei wird jedoch
übersehen, dass die Grundrechtscharta eine Kodifikation bestehender
Grundrechtsgewährleistungen darstellt, die Rechtsverbindlichkeit also bereits
auf Grund dieser in anderen Rechtsinstrumenten verankerten
Grundrechtsgewährleistungen gegeben ist. Aus der (vorläufigen)
Nichteinbeziehung der Grundrechtscharta in die Verträge folgt also nicht, dass
diese vorläufig keine Rechtsverbindlichkeit entfaltet. In jedem Fall wird der
Europäische Gerichtshof sie – neben den ursprünglichen Grundrechtsverbriefungen
- als Rechtserkenntnisquelle im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EUV heranziehen.
Zunächst muss die behauptete Grundrechtsverletzung
allerdings vor den EuGH gelangen. In jedem Fall besteht schon nach der
geltenden Rechtslage die Möglichkeit der Vorlage durch ein innerstaatliches Gericht
(Art. 234 EGV). Damit ist, solange die innerstaatlichen Gerichte kooperieren,
sichergestellt, dass jede die Grundrechte auf Unionsebene betreffende Frage dem
EuGH zur Entscheidung vorgelegt wird.
Eine andere Frage ist, ob zusätzlich das Institut einer
„Verfassungsbeschwerde“ an den EuGH eingeführt werden sollte, mittels derer
sich jeder, der sich durch einen Akt der Unionsgewalt in seinen Grundrechten
verletzt fühlt, an den EuGH wenden kann.
Dagegen sprechen Gesichtspunkte der juristischen Effizienz:
da bereits mit dem geltenden System in der Rechtspraxis weitestgehend
sichergestellt ist, dass die Fragen über das Vorlageverfahren an den EuGH
gelangen. Eine Verfassungsbeschwerde würde daher nur die – sowieso schon
übermäßige – Arbeitslast des Gerichtshofs erhöhen, ohne den Grundrechtsschutz
in der Sache wesentlich zu stärken.
Für die Verfassungsbeschwerde spricht dagegen die Ratio,
die dem gesamten Projekt der Grundrechtscharta zugrunde liegt: die stärkere
Identifikation des Europäischen Bürgers mit seiner Union. Und es ist nicht von
der Hand zu weisen, dass die Möglichkeit, sich wegen einer behaupteten
Grundrechtsverletzung, nach Erschöpfung des Rechtswegs, unmittelbar an den EuGH
zu wenden, hierzu einen wichtigen Beitrag leisten könnte[84].
Dies ist allerdings keine Frage, die der Konvent zu
entscheiden hätte. Die Einführung einer solchen Europäischen
Verfassungsbeschwerde müsste auf Vorschlag eines Mitgliedstaats oder der
Kommission in einer Regierungskonferenz zur Änderung der Verträge (Art. 48 EUV)
beschlossen werden.
5.
Ausblick
Das Ergebnis der Arbeiten des Konvents zeigt, dass er
die schwierige Gratwanderung zwischen dem Auftrag einer Kodifikation der
geltenden Grundrechte und einer behutsamen Anpassung an die aktuellen
gesellschaftlichen Entwicklungen gemeistert hat: Zahlreiche innovative
Bestimmungen - wie etwa der Bioethikartikel[85],
das Recht auf Datenschutz[86],
die Regeln zum Schutz der Kinder, zur Gewährleistung der Rechte älterer und zur
Integration behinderter Menschen[87],
die Arbeitsschutzrechte[88]
und insbesondere auch die Bürgerrechte mit dem Recht auf eine gute Verwaltung
und auf Zugang zu Informationen[89]
- zeigen, dass der Konvent die aktuellen Entwicklungen in der europäischen
politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion aufgegriffen und einen den
heutigen Erfordernissen entsprechenden Entwurf vorgelegt hat. Dabei ist er,
entgegen manchem Anschein, seinem Auftrag der Kodifizierung treu geblieben, da
diese neuen Bestimmungen – zumindest in ihrem Kern - bereits in internationalen
Menschenrechtsschutz-Instrumenten enthalten sind oder, wie etwa das Recht auf
Datenschutz/informationelle Selbstbestimmung, zwischenzeitlich von der
Verfassungsrechtsprechung in den Mitgliedstaaten entwickelt worden waren.
Mit der Grundrechtscharta erhält Europa – 50 Jahre nach
der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention – erneut eine
umfassende und auf den aktuellen Stand gebrachte Grundrechtsurkunde. Diese
tritt – wie gezeigt – nicht an die Stelle der Konvention, sondern ergänzt sie
sinnvoll in einem Bereich, in dem der Grundrechtsschutz bisher nur durch für
den Bürger weniger leicht fassbares Richterrecht garantiert worden war. Es ist
zu hoffen, dass die Charta zum Kristallisationspunkt für einen europaweiten
Diskurs der Zivilgesellschaft wird. Dass sie das Potential dazu hat, zeigt
bereits die lebhafte Bürgerbeteiligung bei ihrer Ausarbeitung, insbesondere die
zahlreichen von Privatleuten und Nichtregierungsorganisationen eingegangenen
Stellungnahmen. Die parallel dazu stattfindende Regierungskonferenz zur
Revision der Verträge, deren Dokumente ebenfalls über das Internet
veröffentlicht sind, hat dagegen ein nicht einmal entfernt damit vergleichbares
Echo bei der Zivilgesellschaft gefunden.
Im Anschluss an die feierliche Proklamation durch Rat, Kommission
und Europäisches Parlament anlässlich des Europäischen Rats von Nizza stellt
sich die Frage nach der Einbeziehung der Charta in die Verträge.
Diese kann nur im Rahmen einer Regierungskonferenz (Art.
48 EUV) geschehen. Einige, so insbesondere die Europäische Kommission und das
Europäische Parlament hatten sich zu Beginn der Arbeiten des Konvents für eine
Einführung noch im Rahmen der laufenden Regierungskonferenz 2000 ausgesprochen.
Dies war von zahlreichen Mitgliedsstaaten jedoch als verfrüht angesehen worden,
insbesondere wegen der Gefahr einer Verzögerung der Regierungskonferenz.
Die Einbeziehung in die Verträge wird daher erst bei der
nächsten Regierungskonferenz möglich sein, die nach den Ergebnissen des ER
Nizza voraussichtlich im Jahr 2004 stattfinden wird. Dies sollte aber nicht
überbewertet werden, da - wie gezeigt - der Grundrechtscharta als Kodifikation
bestehender Grundrechte auch ohne förmliche Einbeziehung Rechtsverbindlichkeit
zukommt. Jedenfalls wird eine Verzögerung bei der Einbeziehung in die Verträge
der Wirkung, die die Charta entfalten wird, keinen Abbruch tun.
[1] Dr. iur., Botschaftsrat an der Deutschen Ständigen Vertretung bei der EU. Der Beitrag gibt – soweit nicht ausdrücklich anderweitig gekennzeichnet - ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Er ist für die Veröffentlichung auf den Stand vom 20. Dezember 2000, nach Abschluss der Arbeiten an der Grundrechtscharta, gebracht worden.
[2] Entwurf der Charta der Grundrechte Europäischen Union, abrufbar unter http://db.consilium.eu.int/df (im Folgenden zitiert als „Entwurf“) - Der Konvent hat eine umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit sichergestellt, indem alle seine Dokumente unmittelbar nach Erscheinen in ein speziell dafür eingerichtetes Unterverzeichnis – df für „droits fondamentaux“ - der Homepage des Rats der Europäischen Union eingestellt wurden.
[3] Die in den ER-Schlussfolgerungen, mangels anderweitiger Einigung, zunächst nur als „Gremium“ bezeichnete Versammlung nennt sich seit ihrer Sitzung vom 1. Februar 2000 „Konvent“; diese Bezeichnung ist spätestens seit dem ER St. Maria da Feira (19./20.06.2000) auch vom Europäischen Rat offiziell anerkannt: vgl. Schlussfolgerungen ER Feira – abrufbar auf der Homepage des Bundespresseamts über http://www.bundesregierung.de – Ziff. 4 und 5.
[4] Siehe z.B.: Rengeling, Hans-Werner: Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft - Bestandsaufnahme und Analyse der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schutz der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, München 1993; Pernice, Ingolf: Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht - Ein Beitrag zum gemeinschaftsimmanenten Grundrechtsschutz durch den EuGH, Baden-Baden 1979; Wetter, Irmgard: Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes: die Konkretisierung der gemeinschaftlichen Grundrechte durch die Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Frankfurt am Main ; Bern et al. 1998; Kreuzer, Karl Friedrich: Europäischer Grundrechtsschutz, Baden-Baden 1998.
[5] Schlussfolgerungen des ER Köln, Ziffer 44, Bulletin der Bundesregierung Nr. 49 vom 16.08.1999, S. 514.
[6] Däubler-Gmelin, Herta: Die europäische Charta der Grundrechte – Beitrag zur gemeinsamen Identität, EuZW 2000, 1; vgl. auch: dieselbe: FAZ vom 10.01.2000, S. 11.
[7] So ausdrücklich: Däubler-Gmelin, Herta: a.a.O., EuZW 2000, 1: „... Bezugspunkt zu sein für die Identifikation mit dem europäische Einigungswerk, gewissermaßen für einen europäischen „Verfassungspatriotismus“.
[8] Vgl. zu dieser Terminologie: Koenig, Christian: Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DöV 1998, 268 ff. sowie die zahlreichen w. N. bei: Schwarze, Jürgen: Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung – Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVBl 1999, 1677, insbes. S. 1682, insbesondere auf die Schriften von Grimm, Isensee, Kirchhof, Rupp, die die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union mangels Staatsqualität grundsätzlich in Frage stellen.
[9] BVerfGE 89, 155 ff.
[10] z.B. Isensee, Josef und Kirchhof, Paul in dem von beiden herausgegebenen Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1987, Band I, § 13 Rdnr. 1 und § 19 Rdnr. 18; Grimm, Dieter im Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 6.1992/93, 13 ff.
[11] Vgl. nur die Fülle von Ereignissen, die allein im Jahr 1999 die Öffentlichkeit europaweit beschäftigt haben: der Kosovo-Krieg, die Vorgänge um den Rücktritt der Santer-Kommission, die verschiedenen Lebensmittelskandale (BSE, Dioxin), die Einführung des Euro und die Debatten um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank – so dass man durchaus von der schrittweisen Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit sprechen kann.
[12]
Grundlegend: Oeter, Stefan: Souveränität und Demokratie als Probleme in der
„Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 1995, 659, insbes. S. 701 ff. m.w.N.
[13] Zum Begriff des „Verfassungsbedarfs“: vgl. Koenig, Christian: Anmerkungen zur Grundordnung der Europäischen Union und ihrem fehlenden „Verfassungsbedarf“, NVwZ 1996, 549 ff. In der politischen Diskussion hat die Verfassungsfrage in bezug auf die EU in der jüngsten Vergangenheit wieder an Aktualität gewonnen, ausgehend von der Programmrede von Joschka Fischer als EU-Ratsvorsitzendem vor dem Europäischen Parlament am 12.01.1999 – abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de: „Die Vorstellung von der gemeinsamen Europäischen Zukunft, von der „Finalität“ Europas, ist heute diffus. Hier könnte eine Diskussion über die Verfasstheit Europas Klarheit und Orientierung schaffen.“; dieser Gedanke wurde ausgearbeitet in seiner Rede vom 12.05.2000 vor der Humboldt-Universität - abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de – die in der (längerfristigen) Forderung nach einem „Verfassungsvertrag“, zumindest für die „Europäische Föderation“ gipfelt. Diese Überlegungen sind im übrigen nicht an ein politisches Lager gebunden, vgl.: Schäuble, Wolfgang; Lamers, Karl: Europa braucht einen Verfassungsvertrag, FAZ vom 04.05.1999. Auch auf Seiten der deutschen Länder gewinnt der Gedanke einer EU-Verfassung zunehmend an Unterstützung, wenn auch v.a. unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (einschließlich deren Regionen).
[14] Siehe oben: Fn. 10 und weitere Nachweise bei: Schwarze, Jürgen: a.a.O., DVBl 1999, 1677, insbes. S. 1682.
[15] So auch ausdrücklich der EuGH, der bereits die Gemeinschaftsverträge nicht nur als völkerrechtliche Übereinkünfte, sondern als „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ bezeichnet hat, z.B. im EWR-Gutachten, Sammlung 1991 I, S. 6079, insbes. S. 6102, Rdnr. 21; auch das BVerfG hat in einer frühen Entscheidung von den Gemeinschaftsverträgen als „gewissermaßen der Verfassung der Gemeinschaft“, BVerfGE 22, 293, insbes. S. 296, gesprochen. Zu der im Vordringen befindlichen Auffassung in der Rechtslehre, dass der Verfassungsbegriff nicht nur Staaten vorbehalten ist, vgl. die Nachweise bei: Weber, Albrecht: Die europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, 537, insbes. S. 538, Fn. 16.
[16] Vgl. dessen Beitrag zum Geburtstagskolloquium für Georg Ress, in diesem Band:
[17] So z.B., wenn auch mit sehr vorsichtigen Formulierungen die Beobachter des Europarats, der Richter am EuGH-MR Marc Fischbach und der stv. Generalsekretär des Europarats, Christian Krüger, in der Eröffnungssitzung des Konvents am 17.12.1999 – Dok. Charta 4105/00, Anlage VI, S. 22, insbes. S. 26; ebenso der Kanzler der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Bruno Haller, in Dernières Nouvelles d´Alsace, Ausgabe vom 15.12.1999.
[18] Dieser Beitritt ist nach dem Rechtsgutachten des EuGH – Gutachten 2/94 vom 28.03.1996, Slg. 1996 I-1759 - ohne vorherige Vertragsänderung sogar ausgeschlossen, da es an der erforderlichen Rechtsgrundlage mangelt. Bei diesem Rechtsgutachten des EuGH mag die Überlegung eine Rolle gespielt haben, daß mit dem Europarecht nicht so vertraute Richter die besonderen Rechtsgrundsätze des Europarechts (z.B. den effet utile) und die von einem Staat stark abweichende Zielbestimmung der europäischen Integration nicht ausreichend berücksichtigen und so die Weiterentwicklung der EU hemmen könnten.
[19] Vgl. dessen Beitrag zum Geburtstagskolloquium für Georg Ress, in diesem Band; grundlegend hierzu: EuGH-MR Urteil im Fall Matthews vs. UK vom 18.02.1999, in dem in der EuGH-MR eine Verletzung der EMRK durch den Direktwahlakt für die Wahlen zum Europäischen Parlament - einen Gemeinschaftsrechtsakt - festgestellt hat, da dieser das Wahlrecht zum Europäischen Parlament der Unionsbürger in Gibraltar ausschließt.
[20] Vgl. hierzu: Ress, Georg: Die EMRK und das europäische Gemeinschaftsrecht, ZEuS 1999, 471 ff, insbes. S. 474 ff.
[21] Dabei ist es hierfür unerheblich, ob die Union Rechtspersönlichkeit besitzt – was im übrigen die mittlerweile wohl herrschende Meinung in der Literatur, fußend nicht zuletzt auf den Arbeiten von Ress, Georg: Ist die Europäische Union eine juristische Person?, EuR, Beiheft 2, 1995, S. 27 ff., annimmt.
[22] So auch der Vorsitzende des Konvents, Roman Herzog, in seiner Rede zur konstituierenden Sitzung des Konvents – Dok. Charta 4105/00, Anlage I, S. 8: „dass es an der Zeit ist, nach außen deutlich zu machen, dass die Europäische Union im Verhältnis zu ihren Bürgern keinen geringeren Bindungen unterliegen darf als die Mitgliedstaaten das aus ihrem eigenen Verfassungsrecht kennen.“.
[23] So auch die Solange II-Entscheidung des BVerfGE 73, 339 ff., jedenfalls solange ein ausreichender Grundrechtsschutz durch das Unionsrecht gewährleistet wird. Soweit die Maastricht-Entscheidung – BVerfGE 89, 155 ff. – dahinter zurückgeht, kann dem nicht gefolgt werden und sei es nur aus der Überlegung heraus, dass nicht 15 (oder künftig über 25) nationale Verfassungsgerichte das Unionsrecht am Maßstab ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Gewährleistungen überprüfen können, sowie aus den oben unter Ziff. 1 angeführten Gründen. Inwieweit dies auch für die Beurteilung der Frage gilt, ob ein Sachgebiet der Union im Rahmen der begrenzten Einzelermächtigung überhaupt übertragen worden ist oder nicht, bedürfte einer eigenen, vertieften Untersuchung. Angesichts der Überlegung, dass eine Alleinentscheidungsbefugnis dieser Frage durch den EuGH die Union in die Nähe der Kompetenz-Kompetenz bringen würde, spricht einiges dafür, bei dieser eng umgrenzten, spezifischen Frage angesichts des bisherigen Entwicklungsstands der Union (noch) zumindest eine Missbrauchsüberprüfung durch die nationalen Verfassungsgerichte zuzulassen. Dies entspricht jedoch mehr dem Grundgedanken des Solange II-Urteils (keine Kontrolle, solange kein offensichtlicher Missbrauch) und reicht m.E. nicht aus, ein „Kooperationsverhältnis“ zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten hinsichtlich des Grundrechtsschutzes gegen Akte der Unionsgewalt zu begründen.
[24] Vgl. Art. 234 Abs. 3 EGV, also auch das BVerfG.
[25] Vom 3./4. Juni 1999, abrufbar über http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm, Auftrag des „Gremiums“, des nachmaligen Konvents in Anhang IV.
[26] Vom 19./20.06.2000 – abrufbar über http://www.bundesregierung.de – Ziff. 5.
[27] Vom 15./16. Oktober 1999, abrufbar über http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm, Bestimmungen zum Konvent im Anhang "Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte sowie einschlägige praktische Vorkehrungen entsprechend den Schlußfolgerungen von Köln".
[28] Das die Grundrechtscharta, nach einer stark vertretenen Auffassung, früher oder später werden soll – zumindest existiert ein entsprechender Prüfauftrag des Europäischen Rats.
[29] Aktueller Überblick über die Entwürfe, die das Europäische Parlament mehrfach vorgelegt hat, z.B. bei: Weber, Albrecht: a.a.O., NJW 2000, 537 ff., insbes. S. 537. Eine gute Materialsammlung über die grundrechtsrelevanten Arbeiten des EP bietet auch dessen Homepage http://www.europarl.eu.int/charter/de/default.htm, auf der auch die in den beiden nächsten Fußnoten zitierten Dokumente abgerufen werden können.
[30] Abl. EG 1989 Nr. C 120.
[31] Abl. EG 1994 Nr. C 61, S. 155 ff. (Teil VIII).
[32] ER Tampere vom 15./16.10.1999 – http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm - Anhang, Abschnitt B.IV.
[33] Der Europäische Rat spricht von „Redaktionsausschuss“ – z.B. ER Tampere, Anhang B.IV. – was an sich korrekter ist, da ihm neben dem Präsidenten und den Vizepräsidenten auch der Vertreter der Kommission angehört. Im Brüsseler Sprachgebrauch hat sich jedoch die Bezeichnung „Präsidium“ durchgesetzt: Die entsprechenden Konventsdokumente werden ausdrücklich als solche „des Präsidiums“ gekennzeichnet. Daher soll diese Terminologie auch hier verwandt werden.
[34] Dies war im ersten Halbjahr 2000, in dem das Präsidium das erste Mal zusammengetreten ist, der portugiesische Regierungsvertreter Pedro Bacelar de Vasconcellos; im 2. Halbjahr 2000 der französische Regierungsvertreter Guy Braibant.
[35] Inigo Mendez de Vigo.
[36] Der finnische Abgeordnete Gunnar Jansson.
[37] Kommissar Antonio Vitorino.
[38] Der Sitzungsplan ist veröffentlicht auf der Homepage des Konvents: http://db.consilium.eu.int/df.
[39] Vom 15./16.10.1999 – http://www.europarl.eu.int/dg7/summits/de/index.htm - Anhang, Abschnitt B.V.
[40] Vgl. zu diesem Begriff: Hirsch, Günter, der in der Frankfurter Rundschau vom 05.01.2000 mit Blick auf das Charta-Projekt davor warnt, sich in "wohlklingender Verfassungslyrik" zu ergehen.
[41] So: Däubler-Gmelin, Herta in der FAZ vom 10.01.2000, S. 11.
[42] Hier im weiteren Sinne verstanden, also Recht der Europäischen Union, umfassend das Gemeinschaftsrecht und das Recht der übrigen Teile des Unionsvertrags (das sog. Unionsrecht i.e.S.).
[43] Z.B. im Rechtsfall ERT: EuGH v. 18.06.1991, Rs. C-260/89, Slg.
I-2925, Rz. 43.
[44] So auch die explizite Haltung der Bundesregierung, vgl. Däubler-Gmelin, Herta in: FAZ vom 10. Januar 2000, S. 11.
[45] Eine interessante Frage ist, ob angesichts dieser durch Art. 46 EUV geschaffenen offensichtlichen Rechtsschutzlücke für diesen Sonderfall die – im Sinne der Solange II-Entscheidung, vgl. auch oben Fn. 23 – grundsätzlich ruhende Kompetenz der einzelstaatlichen Verfassungsgerichte zur grundrechtlichen Überprüfung von Unionsrechtsakten wieder auflebt. Angesichts der Geltung des Rechtstaatsprinzips auch für die nichtstaatliche Rechtsgemeinschaft Europäische Union spricht viel für diese Auffassung, um mit diesem Prinzip unvereinbare Lücken im Individualrechtsschutz zu verhindern.
[46] Vgl. Art 31 in der Fassung von Dok. Charta 4316/00, S. 2: „... sowie die auf Gemeinschaftsebene und im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten handelnden Sozialpartner achten die Rechte und bringen die Grundsätze zur Anwendung, die in dieser Charta für den Sozialbereich aufgeführt sind.“.
[47] Auch wenn die Existenz eines "Unionsgebiets" bestritten ist, ist der territoriale Anwendungsbereich des Unions- und Gemeinschaftsrechts doch eindeutig festgelegt. Insoweit erscheint es sinnvoll, von einem Unionsgebiet zu sprechen. Dabei sollen allerdings aus diesem Begriff hier keine Rechtsfolgen hergeleitet werden, da ein solches Vorgehen - die Herleitung von Rechtsfolgen aus staatsrechtlichen Begriffen, die in einem ganz anderen geschichtlichen und staatstheoretischen Zusammenhang entwickelt worden sind – wie oben dargelegt, an den Erfordernissen der heutigen europäischen Verfassungswirklichkeit vorbeigeht.
[48] Anhang IV, Abs. 2 bei den wirtschaftlichen und sozialen Rechten mit der Einschränkung, „soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen“.
[49] So auch die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents – Dok. 4473/00, S. 3: "Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte.".
[50] Mit dieser streng systematischen Aufteilung hat der Konvent ein früheres Verständnis aufgegeben, wonach es weniger auf die systematische Unterscheidung der verschiedenen Formen der Grundrechte ankomme, sondern auf eine Reihenfolge, die die jeweilige rechtliche und politische Bedeutung angemessen zum Ausdruck bringt. Aus diesem Grund fanden sich im Zwischenentwurf – siehe Fn. 52 - an sich sachlich zusammenhängende Grundsätze an verschiedenen Stellen: z.B. der Gleichheits-Grundsatz zu Beginn in einer allgemeinen Formulierung ("alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich") und später (ex Art. 22) in einer ausführlichen, in drei Absätzen ausdifferenzierten Bestimmung mit den verschiedenen Diskriminierungsverboten.
[51] Interessant sind insbes. diese Zwischenentwürfe mit ihren Begründungen, aus denen sich die Überlegungen des Konvents erkennen lassen: Dok. Charta 4284/00 vom 5. Mai 2000 für die bürgerlichen und politischen Rechte und Dok. Charta 4316/00 vom 16. Mai 2000 für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie die horizontalen Bestimmungen –abrufbar über http://db.consilium.eu.int.
[52] Dok. 4422/00, abrufbar unter http://db.consilium.eu.int/df.
[53] Eine vom Präsidium erstellte Zusammenfassung der von den Mitgliedern des Konvents eingereichten Änderungsvorschläge zum Zwischenentwurf findet sich in Dok. Charta 4360/00.
[54] So ihre Ziff. 1.
[55] Als zeitgemäße Ausdrucksform der Brüderlichkeit.
[56] Zum Beispiel in der englischen: „spiritual and moral heritage“ und der französischen: „héritage spirituel et moral“.
[57] Die Formulierung "ist unantastbar" wurde - aufgrund zahlreicher darauf hinzielender Änderungsvorschläge, insbesondere seitens der deutschsprachigen Mitglieder des Konvents bzw. Experten in den Anhörungen – erst in der Schlussphase gewählt. In den ersten Fassungen hieß es „ist zu achten und zu schützen“, da die „Unantastbarkeit“ eine faktische Aussage und keinen Normbefehl darstellt und somit genau betrachtet nicht korrekt ist.
[58] So in der Begründung des Präsidiums: Dok. 4473/00 S. 4, die allerdings vom Präsidium in eigener Verantwortung formuliert worden sind und ausdrücklich keine Rechtswirkung entfalten, daselbst S. 1.
[59] Art. 52 Abs. 3, wonach Rechte die den EMRK-Rechten entsprechen, „eine den in der genannten Konvention eingeräumten Rechten entsprechende Bedeutung und Tragweite haben“, allerdings nur „sofern diese Charta nicht einen höheren oder umfassenderen Schutz gewährleistet“.
[60] In Art. 3 Abs. 2.
[61] So die Begründung zum vorangegangenen Zwischenentwurf: Dok. 4284/00, S. 4.
[62] Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 6); Achtung des Privat- und Familienlebens – darunter wird auch die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Fernmeldegeheimnis, genannt Recht auf Achtung der Kommunikation, gefasst (Art. 7); Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10); Meinungs- und Informationsfreiheit – im Rahmen derer die Medien ausdrücklich gewährleistet werden (Art. 11); Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1); Forschungsfreiheit (Art. 13) – aber nicht ausdrücklich Freiheit der Lehre, dafür wird die „akademische Freiheit“ gewährleistet, unter die auch die Freiheit der Lehre zu fassen sein dürfte; Berufsfreiheit (Art. 15); die Eigentumsgarantie (Art. 17), wobei das geistige Eigentum eigens erwähnt und in den Schutzbereich einbezogen wird; Recht auf Asyl nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 (Art. 18); Verbot von Kollektivausweisungen und der Auslieferung an Verfolgerstaaten (Art. 19).
[63] Zum Gesetzesvorbehalt im Unionsrecht, vgl. unten unter Buchstabe d) Schrankenregelungen.
[64] So die Begründung des Präsidiums, Dok. 4473/00, S. 12.
[65] Z.B. Däubler-Gmelin, Herta: FAZ vom 10.1.2000, S. 10.
[66] Vgl. Däubler-Gmelin, Herta: FAZ vom 10.1.2000, S. 10
[67] Z.B. in der französischen öffentlichen Debatte stehen die sozialen Grundrechte ganz im Zentrum.
[68] Anhang IV, Abs. 2.
[69] V.a. Recht auf Bildung (Art. 14), Schutz der Kinder (Art. 24), Rechte älterer Menschen (Art. 25), Integration von Behinderten (Art. 26).
[70] Z.B. die Gewährleistung des Elternurlaubs in Art. 33 Abs. 2, der die Richtlinie 96/34/EG aufgreift.
[71] Also auch der Aussperrung.
[72] Im Sinne der deutschen Sozialversicherung: Krankenversicherung, Arbeitsunfallversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung.
[73] Dabei stellt sich die Frage, wie diese „Gepflogenheiten“ mit dem Gesetzesvorbehalt der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 vereinbar sind.
[74] So z.B. ausdrücklich in Art. 37 am Ende: „müssen in die Politiken der Union einbezogen“ werden.
[75] Z.B.: Urteil des EuGH-MR vom 7.8.1996 – C. vs. Belgien, http://hudoc.echr.coe.int/hudoc/ Referenznummer REF00000578 – Ziff. 38: wonach es eine objektive und vernünftige Rechtfertigung dafür gibt, z.B. in Fragen der Ausweisung Gemeinschaftsangehörigen eine Vorzugsbehandlung einzuräumen.
[76] In „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl“ – nicht aber gleicher Wahl, wegen der, aufgrund der Konstruktion der Europäischen Union sowohl als Bürger- wie auch als Staatenunion, unvermeidbaren Ungleichheit des Erfolgsgewichts der Stimmen von Unionsbürgern aus verschiedenen Mitgliedstaaten.
[77] Nachweise in Dok. Charta 4473/00, S. 36.
[78] Zum Nachweis dieser Verfahrensgrundsätze in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: vgl. Dok. Charta 4284/00, S. 8-13.
[79] Vgl. statt aller aus der neuesten Rechtsprechung: EuGH Urteil v. 13.04.2000 – Rs. C-292/97 – Entscheidungsgrund 45: „Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte (...) Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“.
[80] Grundlegend das Apotheken-Urteil: BVerfGE 7, 377 ff.
[81] Vgl. in Dok. 4473/00 die Auflistung der Charta-Artikel, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die EMRK-Artikel haben und derjenigen mit derselben Bedeutung aber umfassenderer Tragweite.
[82] Art. 249 EGV.
[83] Vgl. auch Ress, Georg: Das Europäische Parlament als Gesetzgeber – Der Blickpunkt der Europäischen Menschenrechtskonvention, ZEuS 1999, 219 ff.
[84] Dies ist auch die Position der Bundesregierung, vgl. Däubler-Gmelin, Herta in FAZ vom 10.01.2000, S. 10: „Insbesondere sollte die Anfechtungsklage einzelner Bürger gegen europäisches Recht wegen Grundrechtsverletzungen unter den gleichen Voraussetzungen zulässig sein wie die deutsche Verfassungsbeschwerde.“.
[85] Art. 3 Abs. 2 Charta.
[86] Art. 8 Charta.
[87] Art. 24-26 Charta.
[88] Vor allem Art. 33 Charta – Einklang von Familie und Berufsleben.
[89] Art. 41 und 42 Charta.